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Newsletter n°4: Bericht von Kathleen Bühler

Fieldwork V in Biel vom 10. – 21. Oktober 2017

Bericht vonn Kathleen Bühler

Thomas Hirschhorn im Gespräch mit dem Verein Ditsch / Thomas Hirschhorn en discussion avec l’association Ditsch.

Schon das fünfte Mal findet eine Feldforschung in Biel statt. Thomas Hirschhorn, der Künstler, Enrique Munoz Garcia, der Fotograf und Assistent sowie ich, die Kuratorin ziehen unterstützt vom erweiterten Team bestehend aus Betty Stocker, Stéphane de Montmollin und Ruth Gilgen unsere Kreise. Diese vierzehn Tage stehen unter dem Motto „Konkretisieren“. Die Kooperationen mit Institutionen, Organisationen und Einzelpersonen sollen sich in unserer Feldforschungszeit konkretisieren oder sie fallen weg. Fast 75 Treffen finden statt, in denen das Ziel und die Vorgehensweise umrissen werden, in denen zur Sprache kommt, was es bedeuten könnte, 87 Tage von 10 bis 22 Uhr mitzuwirken, Teil der Skulptur zu sein und sichtbar zu werden. Was steht dabei für unsere Mitwirkenden stärker im Vordergrund? Angeschaut zu werden und den Voyeurismus der BesucherInnen zu bedienen oder mit grösserer Sichtbarkeit gleichsam den öffentlichen Raum zurückzuerobern, aus dem immer mehr Menschen, die nicht konsumieren können oder wollen, verdrängt werden? Die Motivationen sind also vielschichtig und gegeneinander abzuwägen. Doch wird niemand gezwungen. Es ist eine Einladung und sie besteht auch darin, über den öffentlichen Raum grundsätzlich nachzudenken. Denn all die Widerstände oder Hindernisse, an welche die «Robert Walser-Sculpture» im Laufe der schon eineinhalb Jahre dauernden Vorbereitungszeit stösst, verdeutlichen lediglich die – symbolische wie buchstäbliche – „Verbauung“ des öffentlichen Raumes gegenüber uns BürgerInnen. Das ist ein schleichender Prozess, innerhalb dessen definiert wird, wer im öffentlichen Raum willkommen ist und wer nicht, für wen er gebaut wird und für wen nicht.

Stadtbibliothek, öffentliches Gespräch / Bibliothèque de la ville de Bienne, conversation publique

Bei unseren Gesprächen schrecken jedoch auch Viele zunächst zurück vor der Dauer, den 12 Stunden-Tagen und der Verantwortung. Im Sommer ist Ferien- und Badezeit. Viele wollen dann weg. Auch wenn dieses „Präsenz- und Produktionsprojekt“ voraussichtlich einzigartig werden wird, sind die Leute hin- und hergerissen: es zieht sie in die Ferien oder sie möchten selbst über ihre Zeit verfügen. Doch das Engagement und die Begeisterungsfähigkeit von Thomas Hirschhorn sind ansteckend. Wie wäre es, etwas Einmaliges zusammen zu erleben? Sich einem Thema und einer Erfahrung hinzugeben, die nur entstehen kann, wenn wir selber engagiert dazu beitragen? Etwas, wo wir nicht einfach konsumieren, sondern mitmachen, impliziert sind und als Teil der Gesellschaft angesprochen werden? Diese Verlockung ist stark und entsteht im gemeinsamen Gespräch, in der Vorahnung, dass es grösser und grossartiger sein wird als die Summe seiner Einzelteile. In aller Gründlichkeit und mit aller Geduld werden Ängste aufgenommen, Alternativen diskutiert, immer wieder das Lot gesetzt, dass die grundsätzliche Bereitschaft ausmisst und deutlich macht, dass es am Ende Kunst sein wird, nicht Sozialarbeit oder Robinson-Spielplatz.

Schüler des Gymnasiums / Etudiants du Gymnase

Irgendwann in der Feldforschungszeit treffe ich auch einen Berufskollegen an einer halböffentlichen Veranstaltung, an der über die Skulptur orientiert wird. Begeisterung allenthalben, doch warnt er davor, dass es zum „Sozialkitsch“ ausarte wie die Documenta dieses Jahr und man sich genau überlegen müsse, welche „Art von Öffentlichkeit“ angesprochen werde, damit es nicht scheitere… Ich bin überrascht von dieser Reaktion. Was könnte daran „kitschig“ sein, mit verschiedenen Bevölkerungsgruppen zusammen zu arbeiten, die sich im Alltag gar nicht mehr begegnen? Die zunehmende Unterteilung in Ziel- und Interessensgruppen zu überwinden, um sich mal wieder als Gesellschaft zu fühlen, die einem grossartigen Schriftsteller und Dichter gedenkt, der sich in seinem Leben intensiv mit dem Scheitern befasste? Wie kann es „Kitsch“ oder ein „Misserfolg“ sein, über das nicht Planbare in Leben und Kunst , das Zufällige von Aufwind und Niedergang Gedanken zu machen und daraus folgend zu überlegen, wie wir in unserem sozialen und politischen Handeln wieder humaner werden könnten? Das ist es für mich, dieses Abenteuer, das zwar im Rahmen eines Kunstwerkes stattfindet, aber uns als Individuen einbindet und zu unseren je eigenen Schlüssen führen wird. Nun ja, und ich gehöre wohl zu den wenigen, welche die Documenta in diesem Jahr wirklich super fanden…

Schüler des Gymnasiums / Etudiants du Gymnase

Photos ©Enrique Muñoz García, All rights reserved.